Ciudad de México, Teil 1 - Eine Stadt, die alles kann
von Max
10. Mai - 15. Mai 2022
Wie muss man sich Mexiko-Stadt vorstellen? Ich nehme euch dafür ein bisschen an die Hand. Die ersten Bilder drehen sich um die Größe, die Geschichte und die Absurdität dieser Megametropole. Davos (1560 m) ist die höchstgelegenste Stadt Europas. Mexiko-Stadt macht es sich in einem Tal auf 2240 m gemütlich. In der Metropolregion der Stadt leben 9,2 Millionen Menschen, in der Agglomeration im gesamten Tal circa 21 Millionen. Das sind mehr Menschen, als in Chile oder in den Niederlanden wohnen. Ein Teil reicht nicht aus für Ciudad de México (CDMX). Hier kommt die erste Hälfte:
Es ist lange nachdem die ersten Menschen den amerikanischen Kontinent über die vereiste Beringpassage erreicht haben. Längst haben sie alle Ecken Amerikas besiedelt, längst haben erste (Hoch-)Kulturen riesige Tempel und Pyramiden gebaut und die fruchtbarsten Länder besetzt. So wie die Ufer dieses Sees hier. Der Texcoco-See liegt auf über 2000m, umrahmt von Bergketten und den Vulkanen Popocatépetl und Iztaccíhuatl.
Es ist das Jahr 1325. Das Volk der Méxica erlebt seinen Exodus. Seit sie ihre ursprüngliche Heimat Aztlán verlassen haben, wandern sie umher auf der Suche nach ihrem geweihten Land, angeführt von ihrem Gott Huitzilopochtli. Dort, wo ein Adler auf einem Kaktus sitzt und eine Schlange verspeist, sollen sie sich niederlassen. Ach schaut, was ist denn da rechts auf dem Bild? Ungünstigerweise sind alle Ufer des schönen Texcoco-Sees aber schon von anderen Völkern besetzt. So ziehen sie auf eine Insel. Da hatte wohl vorher noch keiner dran gedacht.
Und sie siedeln und wachsen und kämpfen und bauen eine Stadt, die sie Tenochtitlán nennen. Sie haben 200 Jahre, in denen sie ihren größten Tempel, den Templo Mayor (hier in der Mitte aus Bronze und im Hintergrund als Ruine), insgesamt sieben Mal bauen werden. Nämlich wie eine Matrjoschka immer über den bisherigen drüber. Im Laufe der Jahrzehnte entwickeln sie sich zu einem Kriegervolk, unterjochen die Völker in ganz Zentralmexiko und werden gefürchtet und gehasst für ihre opulenten Menschenopfer. Dann nimmt die Geschichte den gleichen Lauf wie an so vielen Orten in Amerika. Die Spanier in Person von Hernán Cortés landen 1519 in Mexiko, leben zwei Jahre unter den Mexica, oder wie sie sie nennen werden: Azteken. 1521 ist der Friede dann vorbei. Die Spanier erobern Tenochtitlán, zerstören dessen Tempel und bauen aus den Steinen des Templo Mayor ihre Kathedrale. Einzig den Namen ihrer Stadt wählen sie in Anlehnung an die soeben vernichtete Kultur: Mexico.
Einst wurde Tenochtitlán auf einer Insel gebaut und mit Straßen an das Festland angebunden. Von dem einstigen Texcoco-See existiert heutzutage beinahe nichts mehr. Der See wurde schon zu Azteken-Zeiten geschrumpft, um die einstige Insel zu vergrößern. Heute ist er fast komplett trockengelegt, denn es leben ja mehrere Millionen Menschen auf seinem Gebiet. Das ist besonders schade für den Axolotl, der einzig und allein (!) im Texcoco-See endemisch ist. Oder war. Vor ein paar Jahren wurden in den letzten Überbleibseln des Sees vier Monate lang Axolotls gesucht. Es wurden keine gefunden. So toll die entstandene Stadt auch ist, sie haben im wahrsten Sinne auf Sand gebaut. Angeblich sinkt die Stadt jedes Jahr 10-20 cm ab.
Der Zócalo ist der zentrale Platz der Stadt, das Herz der mexikanischen Nation auf den Trümmern Tenochtitláns. Einer der größten Plätze der Welt, meint man. Wir haben kein Foto von der Kathedrale aus Tempelsteinen. Den etwas steht davor. Wer erkennt, was es ist?
Ja, genau, ein gigantischer Fußball als Werbung für die WM in Katar im Herbst. Und das, was ich eigentlich meinte, ist die Sixtinische Kapelle. Nicht aus Rom verschifft, sondern in Detailarbeit und wie eine riesige Hüpfburg nachgebaut (zum ersten Mal und mit exklusiver Erlaubnis des Vatikans). Der Eintritt ist frei und die Tatsache des Nachbaus mitten auf dem Nationalplatz ist einerseits lächerlich, aber andererseits für die meisten Mexikaner wohl die einzige Möglichkeit, die Wahnsinnsarbeit Michelangelos mit eigenen Augen zu sehen. Und es ist wirklich exzellent ausgeführt. Außer die flatternden Planen an der Seite lässt einen wirklich nicht vermuten, dass man nicht grade am Ende eines mehrstündigen Rundgangs durch die vatikanischen Museen angelangt ist.
Diese Stadt hat so viele Geschichten zu erzählen, dass mir hier wahrscheinlich die Buchstaben ausgehen würden (wenn ich sie alle kennen würde). Hier eine: Wir schlendern im Viertel um unser Hostel herum und entdecken (es ist immer eine kleine Freude) einen Park. Und dieser Park ist die Stelle, an der sich Fidel Castro und Che Guevara 1955 zum ersten Mal begegnet sind. Und dann zusammen die Kubanische Revolution geplant haben. Ich setz mich mal zu ihnen, aber sie sind sehr schweigsam. Eine Revolution plant man auch nicht durch Herumplaudern, ich versteh schon.
Der Alameda-Park in der historischen Altstadt ist unser erstes Ziel am ersten 14-km-Stadtspaziertag. Wir sehen eine Aphrodite und dahinter irgendne griechische Göttin. Nebenan haben sie auch eine Beethoven-Büste, die aus einem Steinblock herausschaut.
Das passt thematisch aber gar nicht schlecht, ist doch direkt nebenan der Palacio de las Bellas Artes. Drin zu finden sind große Wandgemälde von Diego Rivera und Co. und ein Opernsaal, selbstverständlich.
Den Ausblick von eben haben wir aus dem siebten Stock eines Kaufhauses. Talja meint, in Kaufhäusern fühlt sie sich immer sehr behütet. Stimmt schon, dass hier könnte auch in Europa stehen. Auf Etage 5 stoppt uns (Leckermäulchen Talja) diese Schokoladengalerie. Wir haben schon unsere Probierwünsche ausformuliert, aber dann heißt es, dass es den Stoff nur in 100g-Packen gibt. Dann nehmen wir etwas Verpacktes. Die Verkäuferin ist etwas panisch über unsere Bestellung. Es wirkt, als sei sie nicht darauf vorbereitet, dass hier tatsächlich jemand was naschen will.
Kleine Ratefrage: Woher könnten diese erfreuten Gesichter stammen? Wohin würde ich gehen, wenn ich einen Tag zur freien Verfügung habe?
Genau, in einen Vergnügungspark! Taljas Geburstagsgeschenk aus vorpandemischen Zeiten wird endlich eingelöst! Vielleicht sind wir nur wegen des Six Flags Mexico überhaupt in die Hauptstadt gefahren? Ich habe mich vorher sorgfältig informiert, ob der Park groß genug ist, um meine hohen Erwartungen nicht zu enttäuschen. Er ist bis zu 67 Achterbahnmeter hoch. Kein Belantis, sondern vielmehr ein Heidepark oder PortAventura.
Das Foto hier ist eine freche Lüge. Als erstes ("Keine Angst, wir fangen erstmal sanft an, nicht gleich mit den Achterbahnen") steigen wir in dieses Pendel hier, das gemeinerweise das höchste Pendel der Welt ist. Nagut, wussten wir am Anfang nicht. Gemein ist auch, dass die Sitze nach außen angebracht sind. Die Schwerelosigkeit am Scheitelpunkt, ohne vor sich irgendetwas außer die große Stadt zu sehen, ist die perfekte Illusion des Fliegens. Und für Talja der wahr gewordene Abtraum (Unten dann: "Ich fahre heute gar nichts mehr"). Ein paar beschwichtigende Achterbahnen später ist Talja leider noch immer nicht so abgeholt wie ich, aber das Pendel des Schreckens ist wieder vergessen und kann als Fotokulisse dienen.
Joa. Er hat mich dann doch nicht gekidnappt. War nicht blond genug.
Als Belohnung für 5-6 Achterbahnen (wir haben riesiges Glück mit dem Anstehen!) gibt es diese Wildwasserfahrt für Talja. Das ist das einzige Fahrgeschäft, was Talja mehrfach und ich lieber nur einmal fahren möchte.
Strahlend geht's hinein, und brutal durchnässt wieder heraus. Bei ähnlichen Fahrgeschäften fließt links und rechts viel Wasser nur für die Show, aber hier wid man einfach gnadenlos langsam unter einem Wasserfall hindurchgefahren.
Die Achterbahnen hier heißen "Batman", "Superman", "Wonderwoman", "Joker", "Medusa". Für alle, die damit nichts anfangen können: Es sind offenbar viele Lizenzgebühren an das DC-Comic-Universum geflossen. Die entsprechenden Achterbahntypen: Inverted Coaster, Hypercoaster, 4-Dimension-Coaster, Wilde Maus, Holzachterbahn. Damit sollte ja jeder etwas anfangen könnten. Mein Minimalziel war es, eine Achterbahn zu fahren, wer weiß, wie lange man jeweils anstehen muss. Am Ende fahre ich jede einzelne einmal und die größte doppelt. Seufz.
Wir haben es uns zum Hobby gemacht, in jeder Stadt die schönsten (alle) Parks aufzuspüren. Dort atmet man die Stadt doch am intensivsten. Hier ein Portraitlein aus dem Parque México, direkt neben dem Parque España.
So, hier wären wir bei der nächsten (urmexikanischen) Attraktion. Wie so oft werden wir durch ein Tourenangebot im Hostel darauf aufmerksam gemacht und gehen dann doch auf eigene Faust, weil deutlich billiger. In dem Fall zusammen mit ein paar anderen Leuten vom Hostel, die die gleiche Idee hatten. Aber was ist das hier? Es nennt sich Lucha Libre; im Deutschen würde man Wrestling sagen. Man kennt es aus den USA ("Smackdown", "Raw"). Die Show hier ist genauso sehr auf Unterhaltung ausgelegt wie beim US-Pendant. Aber irgendwie ist es hier alles noch verrückter: Die Namen, die Masken. Und warum läuft da im Ring ein kleiner Affe herum?
Neben dem offensichtlichen Streben nach Wirkung und Unterhaltung ist das Ganze doch eine außerordentliche Anforderung an Akrobatik, Fitness, Schmerzunempfindlichkeit und vor allem Choreographie. Jeder Ringer muss wissen, aus welcher Richtung grade jemand auf ihn drauf springt (einschlägt), um abzufedern und dem Ganzen gleichzeitig noch die maximale Authentizität zu verleihen. Hier hat Talja das Goldene Foto geschossen.
Wir sind nicht geizig mit Highlights, gleich am nächsten Tag fahren wir in das legendäre Aztekenstadion, dem Austragungsort der WM-Finals 1970 und 1986. Damals noch mit einer Kapazität von über 100.000, sind es heute noch 87.000, was es immer noch zu einem der größten Fußballarenen der Welt macht. Hier gewinnt Club America das Viertelfinale der mexikanischen Liga-Playoffs 3:2 gegen Puebla. Am Ende mussten wir unsere Tickets bei einem Straßenverkäufer besorgen und sitzen auch ganz woanders, als bei unseren Tickets angegeben. Aber in solchen Momenten muss man die deutsche Korrektheit vielleicht auch einfach mal beiseite legen. Die Stimmung ist fantastisch, zur Halbzeit gibt es Bingo und wie in Frankfurt fliegt auch hier ein Adler durchs Stadion. Super Erlebnis, aber irgendwie vermisse ich auch das Weserstadion ...
... ach, wie gut, dass ich nur 12 Stunden warten muss. Am 15. Mai gewinnt Werder Bremen zuhause 2:0 gegen Regensburg und steigt direkt wieder in die Erste Bundesliga auf. Auch in Amerika hat mich der Aufstiegskampf nicht losgelassen. Ich habe mich mehrmals 6:30 Uhr aus dem Bett geschält, um irgendwelche 1:1 zu beobachten. Hat sich alles gelohnt! Werder ist wieder da. Niclas Füllkrug schießt 19 Saisontore und sagt: "Das hier ist mein Outfit für die nächsten 3 Tage."
Hier in Mexiko gibt es merkwürdigerweise keine Autokorsos nach dem Aufstieg von Werder. Talja und ich feiern zu zweit und schnüren die Wanderschuhe für die nächsten Abenteuer in Mexiko-Stadt, a.k.a. CDMX ...