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Ho-Chi-Minh-Stadt, Teil 1 - Aller Anfang ist schwer

von Max

9. Dezember - 13. Dezember 2022

Zum Glück sind Langstreckenflüge eher anstrengend, sonst würden das noch viel mehr Leute tun als ohnehin schon. Irgendwo mit neu gemischten Karten ankommen ist für uns zu dieser Zeit nichts Neues mehr. Doch bisher konnten wir verstehen, was auf den Karten steht. Hier wird jetzt anders ausgeteilt.

Gepäckband

Wir träumen von unserm Bett, aber hängen erstmal am Gepäckband fest. Nichts kommt, aber wir haben in unserem Zustand keine Muße, uns über fehlendes Gepäck Sorgen zu machen. Erst nach 20 Minuten merken wir, dass unsere Rucksäcke schon von Anfang an vom Band heruntergenommen wurden und dort auf uns warten.

Bettfürlange

Das XXL-Bett hier ist uns willkommener als ein Elfmeterpfiff in der Nachspielzeit bei einem Unentschieden. Wir werden das Gemach hier in den nächsten Tagen intensiv begleiten. Es ist 43 Stunden her, seitdem wir aus unserem letzten Zimmer ausgecheckt haben. Wir hauen uns erstmal für ein paar Stunden hin. Dann unterbrechen wir unseren Schlaf für ein paar Stunden und schauen 2 Uhr nachts das WM-Viertelfinale der Argentinier gegen die Niederländer. Ein intensives 2:2 und Sieg für unsere Farben nach Elfmeterschießen - viel spannender kann es nicht mehr werden. Oder?

Nachts schlafe ich auf der Toilette ein. Als ich wieder aufwache, habe ich durch meinen Oberkörper die Blutversorgung in beiden Beinen abgeschnitten. In der Konsequenz liege ich für einige Minuten auf dem Badboden und kann meine beiden Beine nicht mehr bewegen. Das passiert auch nicht alle Tage. Ich denke zurück an die Robben in Argentinien.

erste Pagode

Ein erster schweißtreibender 30°-Spaziergang durch Saigon, wie Ho-Chi-Minh-Stadt (HCMC) seit 1976 nicht mehr heißt, offenbart uns die erste Pagode und den ersten Tempel. Mein erster Eindruck: Genial! Drachen und Phönixe an den Dachfirsten, bei den Figuren kann keine Kirche mithalten. Willkommen beim Großen Turnier von Dragon Ball!

zweitePagode

Der schnörkeligen Schönheit der Tempel stehen auch ein paar irritierende Sinneseindrücke entgegen. Wir nehmen hier Gerüche wahr, für die wir erstmal neue Archive in unseren Riechgängen anlegen müssen. Nicht unbedingt angenehme; der Frucht-, Fleisch- und Fischmarkt ist gleich jenseits unserer Gasse zwischen Pfützen und schwüler Hitze. Verkäufer sitzen direkt auf den Bürgersteigen und lassen zwischen dem ausgelegten Obst und Gemüse kaum Platz zum Laufen. Wir fühlen uns am Anfang leicht bis schwer überfordert, hereingeschleudert in die verwinkelten Gassen von Saigon, passé die orthogonale Ordnung Lateinamerikas.

NauNau

Das Straßenessen können wir auch noch nicht einschätzen. Erschwerend kommt hinzu, dass wir schlicht nichts verstehen, was zur Auswahl angeschrieben steht. Nur eines sehen wir schnell ein: hier kann in jedem Gebäck eine Krabbe oder ein Tintenfisch versteckt sein. Das hier ist die Minimallösung: eine Pho-Suppe, in dem Fall eine Hühnerbrühe. Ganz besonders neu im Vergleich zu Lateinamerika ist der Teller voller Grünzeug, den man dazu gestellt bekommt.

GrabArgentina

So viel Zeit haben wir aber heute nicht, über die Essen, Sprache und Gerüche und unser neues Leben als verständnislose Touristen nachzudenken. Wir schaffen es, uns Internet zu besorgen. Wir zahlen 9€. Und bekommen dafür 120 GB im Monat. Dann machen wir uns auf den Weg zu unserer Mission für heute.

42KListe

Tada! Wir sind auf der Marathon-Messe!

RacePack

Eine ganz besondere Freude bedeutet immer das Auspacken des Marathon-Beutels, dem ganzen Bling-Bling rund um die Startnummer, was die eigentliche Komponente unserer Abholaktion ist. Über der Startnummer seht ihr eine Ei-Wurst. Also einen Ei-Riegel. Ein reagenzglasgroßer Stab mit Ei-Geschmack. Das T-Shirt, das ich morgen anziehen werde, ist ärmellos und rot.

ArgentinaMarathon

Wir repräsentieren hier etwas komplementär zum vorherrschen Rot unseren bevorzugten WM-Halbfinalisten im Trikot von '86. Die Marathon-Messe ist groß, laut und bunt, wie es sich gehört.

RedBull

Ausgerüstet mit einem neuen Beutel und dem originalen Red Bull aus Thailand verlassen wir das Gelände der Messe. Das Ziel verfehlt sie nicht: der Flug ist geschafft, die ganzen Überlegungen zwischen Jetlag, Klima, Schlaf und Viertelfinale haben sich auch geordnet, jetzt freue ich mich auf entspannte 42 Kilometer morgen früh.

Nachtstart

Was heißt früh. Es ist mitten in der Nacht. Ich stehe um zwei Uhr nachts auf, bin gegen drei am Start und ab 3:45 Uhr auf den Straßen Saigons unterwegs. "Sunrise Events" heißt der Veranstalter des Marathons. Und auch wenn ich zweimal hinschauen musste, als ich die Startzeit gesehen habe, war sie schlau gewählt. Tropisch warm ist es hier sowieso, aber so kann man die Zeit minimal halten, bei der die Sonne auf einen hinabscheint.
Kurz: Bis Kilometer 25 genieße ich meinen ersten Marathon nach 4 halben. In den Dreißigern geht es auch noch, aber nicht mehr so schnell, wie ich es mir gewünscht hätte. Fünf bis Zehntausend gehende Menschen aus den 21 und 10 Kilometer-Läufen auf der Strecke machen es dann noch etwas schwieriger, Tempo zu halten, die Verlockung ist zum Greifen nah, auch einfach ins Gehen abzugleiten.

Ankunft

Aber was man anfängt, sollte man schon durchziehen. Talja hätte im Ziel bestimmt auch nicht ewig gewartet. Sie muss zu meiner leichten Enttäuschung ein paar Minuten mehr warten, als ich prognostiziert hatte. 3:37:30 dauern dann also heute die 42,195 plus die 300 Extrameter, die die Veranstalter noch oben drauf gepackt haben.

Eistonne

"Ich lege mich jetzt erst mal drei Tage in die Eistonne, und dann sehen wir weiter."

NauNau

Wie gesagt, das Bett ist unser Freund. Regenerieren und den richtigen Schlafrhythmus finden ist der Plan für den anschließenden Tag. Talja hatte schon etwas beim Street Food genascht, jetzt hätte ich auch Potential, mir den Magen zu verderben, aber erstmal finden wir Zuflucht in einem modern konzipierten Veggie-Restaurant mit trefflichem Geschmack.

Auch hier Parks

Auch hier gibt es Parks, nach denen wir unsere erste größere Stadterkundung an Tag 4 ausrichten.

El Gaucho

Ja, sind wir denn immer noch in Argentinien?

Lotusblume

Hier war ich gestern Nacht auch schon! Wir sehen eine Lotusblume vor Ho Chi Minh, Staatsgründer der sozialistischen Republik Vietnam (1945) und das Gebäude des Volkskommitees (auch wenn wir nicht genau wissen, was ein Volkskommitee ist).

Schneemann

Wie kalt uns hier ist. Und erst die winterliche Atmosphäre!

Kommunism

Die Plakate verwundern unsere Augen. So was kennen wir nur in Schwarz-Weiß aus der DDR. Aber der Designer von Volksinformationsbildern ist vielleicht hierher umgezogen.

MuseumVonAußen

Das "Museum der Kriegsüberreste". Und mit Krieg ist der Indochinakrieg (1946 - 1954) der Vietnamesen gegen die französische Kolonialmacht gemeint. Und natürlich der Vietnamkrieg (1954 - 1975) im geteilten Vietnam unter massiver Teilnahme der Vereinigten Staaten.
Auch wenn das heutige Vietnam ein Land ist, in dem nahezu keinerlei freie Presse existiert - das, was wir im Museum darüber lernen, was die USA in diesem Krieg dem vietnamesischen Volk angetan hat, kann durch keine Tendenz verfälscht werden.
Darunter fallen nicht nur der völkerrechtswidrige Einmarsch, die Bombardierungen und das Versprühen von hochgiftigen Entlaubungsmitteln, das zu Generationen von missgebildeten Kindern geführt hat, sondern auch die dokumentierten Kriegsverbrechen wie die Auslöschung ganzer Dörfer mit Zivilisten.
Die Führung der USA hatte Angst vor einem kommunistischen Vietnam und einem "Dominoeffekt", mit dem sich der Kommunismus in ganz Asien ausgebreitet hätte. Kein solcher Effekt, selbt ein mehr fundierter, wäre so schlimm gewesen wie das Eingreifen der USA in diesem Krieg. Und tatsächlich endet er mit einer Niederlage der Staaten und einer schwärenden Narbe in der amerikanischen Gesellschaft. "Apocalypse Now", "Good Morning, Vietnam!" und auch "Forrest Gump" sind nachhallende Filme, die den fatalen Fehler dieses Krieges spüren lassen.

Frieden

Frieden wäre ein heeres Ziel.

FeierabendVerkehr

Der Besuch in dem Museum nimmt uns arg mit. Wir sind noch nicht ganz auf beiden Beinen zurück und geraten dann in den Feierabendverkehrs Saigons. Etwas, auf das wir nicht vorbereitet sind.
Es gab ja auch Verkehr in Lateinamerika. Es gab São Paulo, es gab die vielleicht breiteste Straße der Welt in Buenos Aires, aber da war der Verkehr immer rational. Was hier passiert, ist ein paar Potenzen schärfer.

FeierabendVerkehrII

Wenn in einer 9-Millionen-Metropole 7 Millionen Motorroller registiert sind und die alle heim wollen, zählen Ampeln (und Zebrastreifen, haha) nichts mehr. Um über die Straße zu laufen, muss man also einfach loslaufen. Größeres Chaos zieht auch höhere Achtsamkeit nach sich. Wie auch immer haben wir noch keinen einzigen Auffahrunfall gesehen. Wir sagen Bescheid, wenn wir in eine Stadt kommen, in der man als Fußgänger noch katastrophaler dasteht. Andererseits sind wir hier gezwungen, schnell zu lernen. Das heißt insbesondere, alle Bedenken fahren zu lassen.

Müll

Irgenwann muss man also über die Straße. Auf den Bürgersteigen kann man ohnehin nicht gut laufen, da haben geparkte Motorroller Priorität. Oder schräge Wege. Oder Müll. Wir sind etwas sauer auf die Stadt und ihren Verkehr. Gibt es denn hier keinen, der auch zu Fuß (oder Fahrrad, haha) unterwegs ist? "Ja, wir sind nur noch 2 Blocks vom Hostel entfernt, dauert nur noch 20 - 30 Minuten!"

Garnelenmuffins

Was soll das denn?
Nach einigen Tagen haben wir unsere Transformation von Lateinamerika nach Asien noch nicht ganz abgeschlossen. Noch sagen wir "Gracias" und "Si", noch sind wir platt von der Wärme, noch rümpfen wir die Nase und trauen uns nicht recht über die Straße.
Eine andere Kultur? Hier ist sie! Und natürlich dauert es nicht lange, bis wir etwas finden, wofür sich die Umgewöhung lohnt ...